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Archivbilder des Quartals 2025/3

Archivbilder des Quartals 2025/3

Besuch aus London

Im Jahr 1953 erlebte die tramfeindliche Stimmung in Zürich den Höhepunkt. Aus Automobilistenkreisen kam die lautstarke Forderung: Herausreissen der Gleise aus den Strassen, Umstellung auf schienenfreie Verkehrsmittel! Die Strassenbahn wurde als Verkehrshindernis Nummer 1 an den Pranger gestellt und als veraltetes Verkehrsmittel gebrandmarkt. In diese Stimmungslage hinein kam Besuch aus London: zwei Hoffnungsträger und ein Kronzeuge – zwei Doppelstockbusse und ein Mann von Scotland Yard.

Archivbilder des Quartals 2025/3

Tram unter Beschuss

Tram Museum Zürich

In der Nachkriegszeit erlebte die Motorisierung einen gewaltigen Aufschwung. Auch in Zürich geriet das Tram arg ins Hintertreffen. Die Umstellung der Linie 1 auf Busbetrieb war beschlossene Sache. Bereits fertig ausgearbeitete Projekte für neue Tramlinien in die aufstrebenden Quartiere Affoltern und Schwamendingen scheiterten bereits im Stadtrat. Immerhin gelang es, nach über 20-jährigem Stillstand und trotz heftiger Opposition einer neuen Tramstrecke zum Erfolg zu verhelfen: das kurze Stück Wartau‒Frankental. Dabei blieb es, während Automobilistenkreise ein regelrechtes Kesseltreiben gegen das Tram inszenierten. Die Strassenbahn wurde als Unfallverursacherin und Verkehrshindernis Nummer 1 an den Pranger gestellt; überhaupt sei sie ein veraltetes Verkehrsmittel und es sei höchste Zeit, das Tram durch den Bus zu ersetzen.

Mitten in diese tramfeindliche Stimmung hinein kam Besuch aus London.

Grosse Anteilnahme an der Krönung von Queen Elizabeth II

Tram Museum Zürich

Am 2. Juni 1953 fand in London die Krönung von Elizabeth II. statt. Die Sympathiewelle für die junge Monarchin erreichte auch Zürich. Ein Komitee rief ein «British Festival» ins Leben mit allerlei Aktionen. Ein Publikumsmagnet war die Ausstellung «Made in England» im Kongresshaus, wo englische Hersteller ihre Produkte präsentierten. Es galt nun, eine attraktive Verkehrsverbindung einzurichten.

Eine besondere Attraktion

Tram Museum Zürich

VBZ-Direktor Heiniger und Verkehrsdirektor Kämpfen liessen sich etwas Besonderes einfallen. Sie orderten zwei rote Doppelstockbusse, wie sie zu dieser Zeit in London in 7000 Exemplaren im Einsatz standen. Am 11. Juni 1953 verliessen sie bei strömendem Regen die Chiswick-Garage in London; es handelte sich um ei-nen Leyland Titan und einen AEC Regent. Mit dabei waren drei Angestellte (Fahrer und Techniker) von London Transport. An Bord war auch eine Säge, um damit vom Oberdeck aus allfällige im Wege stehenden Äste zurückzustutzen. Mit der Fähre kamen die Busse von Dover nach Dunkerque, fuhren dann über Belgien und durch das Elsass nach Basel. Ab dort lotste ein angereister Assistent der VBZ die beiden Busse über Landstrassen nach Zürich. Dabei war oft ein regelrechter Zickzack-Kurs nötig, denn zahllose Unter-führungen machten das Passieren für die 4,4 Meter hohen Busse unmöglich. Schliesslich gelangte das Duo am 15. Juni über die Staffelegg und durch das Furttal in die damalige Autobusgarage Oerlikon.

Tram Museum Zürich

6 Chauffeure, ebenso 6 Kondukteure mit Englischkenntnissen wurden für die temporäre Aufgabe eingefuchst und mit Londoner Uniformen eingekleidet. Ein Einsatz im Linienverkehr kam von vornherein nicht in Frage; die Busse waren für Linksverkehr konzipiert und hatten den Einstieg auf der falschen Seite.

Nach einer Kontrolle durch das Strassenverkehrsamt ging es als erstes auf die Pressefahrt. Die Berichte über die ungewohnte Fahr-Perspektive waren voll Begeisterung. Die Fahrt durch die Bahnhofstrasse auf Höhe der Baumwipfel, das sei wie durch einen Wald zu fahren, schwärmte ein Reporter. Dann kamen die Goldküsten-Bewohner in Genuss der aufsehenerregenden Kolosse. Für 1 Franken konnten die Leute von Zollikon bis Stäfa jeweils ins Nachbardorf fahren (und ‒ sofern sie die Rückkunft des Busses abwarten mochten ‒ auch wieder zurück). Am Folgetag kam das linke Ufer von Kilchberg bis Richterswil zum Zug.

 

Tram Museum Zürich

Dann wurden die Busse tagsüber im Pendelverkehr während der 10-tägigen Dauer der Ausstellung zwi-schen HB und Kongresshaus eingesetzt. Am Abend kamen nacheinander die verschiedenen Quartiere an die Reihe. Angeboten wurde eine knapp halbstündige Fahrt durch die nähere Umgebung; auf der Hälfte der Strecke wurde jeweils gewechselt, die Passagiere vom Oberdeck mussten unten Platz nehmen und um-gekehrt.

Imposant, aber letztlich enttäuschend

Tram Museum Zürich

Die Begeisterung über die imposanten Fahrzeuge war gross. Eine Enttäuschung erlebten jene, die hofften, die Doppelstöcker würden dereinst das Tram ersetzen. Für die Zürcher Verhältnisse waren die Busse ungeeignet. Sie wiesen zwar 56 Sitzplätze auf, aber nur 4 Stehplätze im Unterdeck, total also 60 Plätze. Somit konnten sie punkto Leistungsfähigkeit nicht mal mit den 80-plätzigen VBZ-Standardbussen konkurrieren und erst recht nicht mit den 240-plätzigen Tramzügen. Auch betrieblich konnten die Busse nicht über-zeugen, für den Fahrgastwechsel ging zu viel Zeit verloren.

Tram Museum Zürich

Für den Zweck der Propagandafahrten waren die Londoner Busse hingegen ein voller Erfolg, auch finanziell. Rund 6000 Franken Überschuss resultierten. Ein Drittel davon ging in die VBZ-Kasse, der Rest an das Festival und an den Verkehrsverein. Nach dem Einsatz in Zürich gingen die Busse für Publikumsfahrten nach St. Gallen, dann nach Luzern und schliesslich nach Genf. Von dort aus fuhren sie ins schwedische Malmö, wo ebenfalls ein «British Festival» stattfand. Ohne nennenswerte Probleme kehrten die beiden Busse am 7. August nach London zurück.

Scotland Yard in Zürich

Tram Museum Zürich

Ebenfalls 10 Tage dauerte ein zweiter Besuch aus London, der zur gleichen Zeit stattfand, ohne allerdings mit dem «British Festival» direkt etwas zu tun zu haben. Initiantin war die lokale Sektion des Automobilclubs. Die Einladung ging an den Chef der Verkehrsabteilung der «Metropolitan Police», in der Umgangssprache «Scotland Yard» genannt. Chief Inspector Leonard Weir wurde gebeten, während seines Aufenthalts das Zürcher Verkehrsgeschehen zu studieren und anschliessend seine Eindrücke zu schildern. Am 29. Juni berief der Automobilclub einen Vortrags- und Diskussionsabend ein. 70 Herren lauschten Mr. Weir, welcher in seiner Londoner Uniform auftrat und über seine Beobachtungen berichtete. Ein Dolmetscher übersetzte abschnittsweise.

Der Grossraum London zählte zu dieser Zeit rund 10 Millionen Einwohner. Das einst ausgedehnte Tramnetz in der Themsestadt war unterdessen vollumfänglich auf Busbetrieb umgestellt worden. Man sei froh, das Tram wegzuhaben, meinte Mr. Weir. Geradezu entsetzt zeigte er sich über die 3-Wagen-Tramzüge, die in den Spitzenzeiten das Zürcher Stadtbild beherrschten. Das seien ja richtige Eisenbahnzüge! (In England war das Mitführen von Anhängewagen im Strassenbahnbetrieb gesetzlich verboten, weshalb dort das Tram seine wirtschaftlichen Vorteile nie ausspielen konnte.) Kopfschütteln erntete bei ihm auch die Tatsache, dass selbst in engen Strassen die Tramgleise doppelspurig angelegt sind. Das Vortrittsrecht des Trams sei unlogisch und hemme die flüssige Verkehrsabwicklung. Überhaupt sei das Tram für den Verkehr im Stadtkern überholt. Zürich müsse sehr bald die Entscheidung treffen, ob man die Stadt mit einem modernen Verkehrsmittel ausstatten oder im 19. Jahrhundert steckenbleiben wolle. Immerhin fand der Polizeifunktionär dann doch noch etwas Positives: Er hob anerkennend hervor, dass die Kondukteure in den neueren Wagen ihre Tätigkeit sitzend ausführen können. Natürlich äusserte sich Mr. Weir auch noch über andere Verkehrsteilnehmer, zu oft werde gehupt, es mangle an gegenseitiger Rücksichtnahme, es habe zu viele Schilder und Signale. Dann kam der Diskussionsteil.

Tram Museum Zürich

Nun war auch VBZ-Direktor Heiniger anwesend, der als Rufer in der Wüste auftrat und darauf hinwies, dass der grosse Spitzenverkehr mit dem gleichen Personalbestand unmöglich nur mit Bussen bewältigt werden könne. Mr. Weir liess das nicht gelten, sehr zur Zufriedenheit der Gastgeber.

Die Folgen

Tram Museum Zürich

Während die Einschätzungen des Scotland-Yard-Mannes in den Automobilverbänden und kurz auch in der Presse Widerhall fanden, war dies bei den Verkehrsplanern nicht der Fall. Zwar konnten kurz darauf die Tramgegner einen Sieg erringen. Die VBZ wollten 10 weitere Vierachszüge des bewährten Typs «Kurbeli» anschaffen, um auch die Linie 3 mit modernem Roll-material betreiben zu können. Freisinnige und Landesringler ergriffen das Referendum und im Urnengang vom 6. Dezember 1953 wurde der Kredit mit 50,7 Prozent Neinstimmen abgelehnt. Damit war die tram-feindliche Stimmung in Zürich auf dem Höhepunkt angelangt.

Die weitere Planung führte schliesslich zum Tiefbahn-Projekt, welches die unterirdische Führung des Trams in der Innenstadt vorsah. Bei der Beschaffung von tiefbahntauglichen «Karpfen»-Zügen gab es keine nennenswerte Opposition mehr. Das war nicht anders, als die Tiefbahn-Vorlage an der Urne scheiterte und zur Modernisierung des Rollmaterials die «Mirages» beschafft wurden.

Tram Museum Zürich

Was die Doppelstöcker anbetrifft: 1975 wagten die VBZ einen Versuch mit zwei deutschen MAN-Doppelstockbussen auf verschiedenen Linien. Bewährt haben sie sich nicht. Bei den kurzen Haltestellendistanzen mochten die Passagiere nicht ins Ober-deck hinaufsteigen. Auch bei der Publikumsbefragung fiel der Doppelstöcker durch: Im Verhältnis 3:2 wurde der Bustyp für Zürich abgelehnt. Zürichs Strassen erhielten aber doch noch Doppelstockbusse. 1972 setzte sie die Swissair als Zubringer Hauptbahnhof‒Flughafen ein. Mit der Eröffnung der Flughafen-bahn 1980 wurde diese Buslinie eingestellt, die Busse gelangten nach Winterthur, wo sie noch eine Zeit lang auf der Technorama-Linie eingesetzt wurden.

Während also Doppelstockbusse in Zürich keine Gnade fanden, erlebt das Tram eine prächtige Zukunft. Mr. Weir würde sich wundern. Vielleicht auch darüber, dass im Londoner Stadtteil Croydon die Strassenbahn vor 25 Jahren wieder eingeführt wurde.